2015

Politisch-Philosophische Reflexionen zwischendurch:

 

 

 

Solschenizyn (1994)

 

 Über kritischen Patriotismus

 

In meinem Aufsatz “Reue und Selbstbeschränkung” (1973) mußte ich einmal den Begriff Patriotismus definieren. Jetzt, nach zwei Jahrzehnten, kann ich weiter dazu stehen: “Patriotismus, das ist das ganzheitliche und festverankerte Gefühl der Liebe zu seiner Heimat und zu seiner Nation, verbunden mit der Verpflichtung ihnen beiden zu dienen, und zwar nicht sklavisch, nicht durch Unterstützung unberechtigter Ansprüche, sondern offen für das Erkennen ihrer Schwächen und Mängel.” Auf einen derartigen Patriotismus hat jede Nation ein Recht, und die Russen nicht weniger als andere.

(Aus dem Aufsatz “Die russische Frage am Ende des 20.Jahrhunderts” in dem gleichnamigen Buch S.136. Serie Piper No. 2099, München 1994)

 

Problem der Nivellierung der Kulturen

 

Die “russische Frage” kann am Ende des 20.Jahrhunderts unzweideutig nur so gestellt werden: Sein oder Nichtsein für das russische Volk. Nun rollt über die ganze Erdkugel eine Welle der glättenden, banalen Nivellierung der Kulturen, der Traditionen, der Nationalitäten und der Charaktere. Indessen lehnen sich nicht wenige mit innerer Sicherheit, sogar voller Stolz dagegen auf!

 

(Aus dem Aufsatz “Die russische Frage am Ende des 20.Jahrhunderts” in dem gleichnamigen Buch S.140. Serie Piper No. 2099, München 1994)

 

Was versteht Solschenizyn unter dem Begriff “russisches Volk” - und durch welche Umstände verändert ein Volk seinen Charakter?

 

Der russische Volkscharakter, der unseren Vorfahren wohlvertraut war, den unsere Schriftsteller so oft dargestellt und den einfühlsame Ausländer beobachtet haben, wurde während der ganzen Sowjetepoche unterdrückt, getrübt und zerbrochen. Aus unserer Seele entschwanden unsere Offenheit, Gradheit und edle Einfachheit, die natürliche Ungezwungenheit, die Verträglichkeit, die gläubige Annahme des Schicksals, die langmütige Geduld, die Ausdauer, der Verzicht auf äußeren Erfolg, die Bereitschaft, Schuld bei sich selbst zu suchen, die Bereitschaft zur Reue, die Bescheidenheit beim Vollbringen großer Taten, die Fähigkeit zum Mitleid und die Großmut. Die Bolschewiken haben unser Wesen zerüttet, verbogen und ausgebrannt, am meisten haben sie die Fähigkeit zum Mitleid, die Hilfsbereitschaft und das Gefühl der Brüderlichkeit ausgemerzt, was sie aber förderten war das Schlechte und Grausame (...)

(...) Der Rubel-Dollarangriff der neunziger Jahre hat unseren Charakter wieder in neuer Weise erschüttert: Wer sich die alten guten Wesenszüge noch bewahrt hatte, war nun auf den neuen Lebensstil am wenigsten vorbereitet, erwies sich als hilfloser, untauglicher Versager, unfähig, den Lebensunterhalt zu verdienen (wie schrecklich, wenn Eltern so vor ihren Kindern dastehen), und konnte nur mit weit aufgerissenen Augen nach Luft schnappen, wenn die neue Menschenrasse sie mit dem neuem Kampfruf überrollte: “Geld machen, Geld machen, egal wie! Ob mit Betrug, ob mit Sex, sonstigem Laster oder mit dem Verkauf des mütterlichen Eigentums (dem Ausverkauf der Heimat)!” “Geld machen” wurde zur neuen (und doch so erbärmlichen) Ideologie.

 

(Aus dem Aufsatz “Die russische Frage am Ende des 20.Jahrhunderts” in dem gleichnamigen Buch S.139/140. Serie Piper No. 2099, München 1994)

 

Thema Ukraine

 

An dieser Stelle sind einige Worte über die heutige Ukraine angebracht. Über die ukrainischen kommunistischen Führer, die so schnell ihr Gesicht wechselten, braucht man nicht zu sprechen. Die ukrainischen Nationalisten, die seinerzeit so standhaft gegen den Kommunismus gekämpft haben, in allem gleichsam Lenin verfluchten, haben sich von Anfang an von seinem vergifteten Geschenk verführen lassen: Voller Freude akzeptierten sie die falschen, von Lenin festgelegten Grenzen der Ukraine (sogar noch die Mitgift des selbstherrlichen Chruschtschow, die Krim). Die Ukraine begab sich (wie auch Kasachstan) sofort auf den falschen imperialen Weg.

Es ist nicht nur Rußland, dem ich die Bürde, eine Großmacht zu sein, nicht wünsche. Ich wünsche sie auch der Ukraine nicht. Alle meine besten Wünsche gelten der Entwicklung der ukrainischen Kultur und Eigenständigkeit, von Herzen liebe ich sie - doch warum sollte man nicht mit der Gesundung und geistigen Festigung des nationalen Kerns beginnen, mit kultureller Arbeit im Rahmen der eigentlichen ukrainischen Bevölkerung und der ukrainischen Erde, statt mit dem Drang, eine “Großmacht” zu werden? Ich habe (1990) den Vorschlag gemacht, alle nationalen, wirtschaftlichen und kulturellen Probleme in einem geschlossenen Verband der ostslawischen Völker zu lösen, und meine, diese Lösung sei nach wie vor die beste, denn ich halte uns nicht für berechtigt, durch staatliche Grenzen Millionen familiärer und freundschaftlicher Bande zu zerreißen. Doch in demselben Artikel habe ich die Einschränkung gemacht, daß natürlich niemand wagen würde, mit Gewalt das ukrainische Volk an einer Loslösung zu hindern, allerdings unter voller Garantie der Minderheitenrechte. Sind sich die heutigen Führer der Ukraine und ihrer öffentlichen Meinung im vollen Umfang des ungeheuren Ausmaßes der vor ihnen stehenden kulturellen Aufgaben bewußt? Selbst die ethnisch ukrainische Bevölkerung beherrscht in vielem nicht die ukrainische Sprache oder benutzt sie nicht. (Für 63% der Bevölkerung ist die hauptsächlich gebrauchte Sprache das Russische, während der Anteil der Russen nur 22% beträgt: d.h., in der Ukraine kommen auf jeden Russen zwei “Nichtrussen”, die der Ansicht sind, daß Russisch ihre Muttersprache sei!) Es müssen demnach Wege gefunden werden, alle nominalen Ukrainer zur ukrainischen Sprache hinzuführen. Dann ergibt sich offenbar auch die Aufgabe, die Russen zum Ukrainischen zu bringen (und all das soll ohne Gewalt gehen?). Ferner: Bisher ist die ukrainische Sprache vertikal noch nicht bis in die oberen Schichten der Wissenschaft, Technik und Kultur vorgedrungen. Auch diese Aufgabe ist zu bewältigen. Doch es kommt noch mehr hinzu: Die ukrainische Sprache muß im internationalen Verkehr obligatorisch gemacht werden. Alle derartigen kulturellen Aufgaben dürften wohl mehr als ein Jahrhundert erfordern.

(Bisher aber lesen wir Nachrichten von der Unterdrückung russischer Schulen und sogar von Kindergärten in Galizien, sogar von Überfällen Halbstarker auf russische Schulen, von der örtlichen Unterbindung der russischen Fernsehprogramme oder von einem Verbot für Bibliothekare, mit ihren Lesern russisch zu sprechen. - Soll das etwa der Weg zur Entwicklung der ukrainischen Kultur sein? Da ertönen auch Losungen wie “Russen raus aus der Ukraine!”, “Die Ukraine den Ukrainern!”, obwohl in der Ukraine viele Völkerschaften leben. Wir hören von praktischen Maßnahmen: Wer die ukrainische Staatsbürgerschaft nicht annimmt, bekommt Schwierigkeiten bei der Arbeit, bei der Rente, beim Besitz von Immobilien, verliert sogar das Recht auf Privatisierung - dabei sind doch die Menschen nicht aus dem Ausland eingereist, sondern sie leben dort...

Aber noch schlimmer ist es, daß infolge einer unbegreiflichen Aufhetzung eine antirussische Propaganda geführt wird: Den Offizieren, die den Eid ablegen, wird gesondert die Frage gestellt: ”Sind Sie bereit, gegen Rußland zu kämpfen?” Die Sozialpsychologische Führung der Armee baut Rußland zum Feindbild auf, oktroyiert das Thema einer “Kriegsdrohung” durch Rußland. Sobald aus Rußland eine politische Mißbilligung des Verlusts der russischen Territorien an die Ukraine zu ihren Ohren kommt, reagieren offizielle ukrainische Persönlichkeiten mit dem hysterischen Aufschrei “Das ist Krieg!”, “Das ist der Schuß in Sarajewo!” Wieso bedeuten der Wunsch nach Verhandlungen bereits Krieg? Warum muß man einen Krieg herbeischreien, wo es ihn nicht gibt und ihn nie geben wird?)

 

(Aus dem Aufsatz “Die russische Frage am Ende des 20.Jahrhunderts” in dem gleichnamigen Buch S.124-126. Serie Piper No. 2099, München 1994)

 

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Zitate von Lew Kopelew

Aus dem Buch: Und dennoch hoffen. Texte der deutschen Jahre.

Hoffmann und Campe, Hamburg 1991

 

Kopelew und seine Frau, die Amerikanistin und Schriftstellerin Raissa Orlowa, waren während ihrer Ausbürgerung aus der Sowjetunion 1981 in Westdeutschland als Gäste von Heinrich Böll und Marion Gräfin Dönhoff. Danach blieben sie bis zum Ende der 80iger Jahre zwangsläufig in der Bundesrepublik. Lew Kopelew ist Germanist und Schriftsteller und die gegenseitige Achtung von deutscher und russischer Kultur, deutscher und russischer Geistigkeit, war ihm ein ganz besonders hohes Anliegen. Davon zeugen etliche der verschiedenen in dem Buch versammelten Aufsätze, Reden und Interviews aus dieser Zeit.

 

        • Ein Gedicht von Puschkin:
        • Ich möchte, daß an meinem Grabe
        • das junge Leben fröhlich spielt,
        • am Gleichmut der Natur sich labe,
        • und diese ewig weiterblüht.                                                                                                                                        [Aus: Puschkin und kein Ende… , S.33]

<Die Entwicklungen der Staatsmächte, der politischen Gewalten und politischen Ideologien unterscheiden sich grundsätzlich von den Entwicklungen des nationalen geistigen Lebens, von den Entwicklungen wahrer Kunst und wahrer Poesie. (…) Schriftsteller und Künstler, die den Staaten nicht nur mit dem Leib, sondern auch mit der Seele untertan sind, degradieren sich und erzeugen bestenfalls Material für den Historiker.> [Aus: 1937, S.42]

<Goethes jüngerer Zeitgenosse Alexander Puschkin schrieb in einem Gedicht, sinngemäß ins Deutsche übersetzt: „Ich will weder von den Zaren noch vom Volk abhängig sein. Ich brauche eine andere, eine höhere Freiheit.“ – Er meinte die Freiheit des Geistes, die Freiheit der Gedanken, die innere Freiheit des schaffenden Menschen.> [Aus: Freiheitsideen in Rußland, S. 69/70]

<Als einer der tapfersten sowjetischen Bürgerrechtler ist Generalmajor Pjotr Grigorenko bekannt. Zum ersten Mal trat er 1961 auf einer Parteikonferenz auf. Als alter Parteigenosse, verdienter General und Divisionskommandeur in den letzten Kriegsmonaten, später Leiter eines Lehrstuhls an der Frunse-Akademie sprach er offen und ruhig und wollte die Geschichte der sowjetischen Gesellschaft, seiner Partei und seines Staates als überzeugter Marxist analysieren, um zu begreifen, wie es zu einem ‚Personenkult‘ hatte kommen können. Wie wurde eine solche Bürokratisierung möglich, wo sind hierfür die materiellen Gründe zu suchen? Welche grundsätzlichen Fehler wurden gemacht? Dafür wurde er bereits am nächsten Tag abgesetzt, demobilisiert, aus der Partei ausgeschlossen. Als er dagegen protestierte und dabei sagte, daß Chruschtschow kein Marxist sei, weil er sich in seiner Kritik an Stalin nur auf eine Persönlichkeit konzentriere und nicht vom System spreche, kam er 1964 zum ersten Mal in ein Irrenhaus.> [Aus: Freiheitsideen in Rußland, S.77]

 

Rechts Lew Kopelew, links Pjotr Grigorenko

Lew Kopelew und Pjotr Grigorenko, Sharpen, Black & White-B560

 

<Das Jahr 1968 ist in der Geschichte des russischen Geistes, der russischen bzw. der sowjetischen öffentlichen Meinung außerordentlich bedeutsam. -  In diesem Jahr trat Andrej Sacharow zum ersten Mal mit einem Memorandum an die Öffentlichkeit. Am 25. August demonstrierten auf dem Roten Platz in Moskau sieben junge Menschen gegen die Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei. Sie verlangten Freiheit für Dubcek, denn an diesem Tage wurden Dubcek und seine Kollegen noch im Kreml festgehalten. – Selbstverständlich kamen alle Demonstranten ins Gefängnis, später in Lager, in die Verbannung. Und Sacharow wurde nach seinem Memorandum aller verantwortlichen Posten enthoben.> [Aus: Freiheitsideen in Rußland, S. 78/79]

<In Rußland gibt es auch heute noch althergebrachte Vorstellungen von den tüchtigen, fleißigen, pedantischen, jedoch auch selbstgefälligen, überheblichen, sentimentalen, aber kaltherzigen, alles berechnenden Deutschen, denen man nur mit großem Vorbehalt vertrauen könne.> [Aus: Einander erkennen, S.83]

<(…) gab es aber auch die Tendenz, die Deutschen als kleinkarierte, fleißige, aber geistlose Pedanten, als überheblich eigennützige Spießer zu verachten oder bestenfalls als weltfremde Bücherwürmer, verträumte Philosophen oder Musikanten zu bemitleiden.> [Aus: Einander erkennen, S.85]

<Heute entstehen verzerrte Fremdenbilder – potentielle Feindbilder – aus Überfluß an Information, aus einer Sintflut zweckbewußt falscher oder voreingenommener Informationen, aus kunstfertig servierten Halbwahrheiten und geschickt zusammengestellten Zeugenberichten, bitteren Erfahrungen einzelner oder auch mehrerer Menschen, die vom jeweiligen Gegner Schlimmes erlitten haben.> [Aus: Einander erkennen, S.84]

<Wassilij Shukowskij, der Übersetzer von Bürger, Schiller, Goethe und Uhland, der mehrere Male nach Weimar gepilgert war, der viele deutsche Freunde hatte und mit einer deutschen Frau glücklich verheiratet war, sah in den Plänen eines einheitlichen deutschen Reichs eine große Gefahr – sowohl für Europa als auch für die deutsche Nation. Als die Frankfurter Nationalversammlung die Programme der deutschen Einheit diskutierte, schrieb er an einen seiner deutschen Freunde:

„Gott rette Deutschland vor der Operation, die ihm die Reformatoren bereiten. Diese Anatomen wollen einen ganz neuen politischen Körper schaffen, und deswegen verwandeln sie wirklich lebendige Körper in Leichen und sezieren sie. Sie wollen eine ganz eigenartige arithmetische Aufgabe lösen. Sie machen Österreich zur Null, Preußen zur Null, Bayern zur Null, Sachsen zur Null, alles andere zur Null, und daraus wollen sie eine Einheit, eine Eins, ein Deutschland machen.“

Die meisten russischen Dichter und Denker des ausgehenden 19. Jahrhunderts kannten, liebten, bewunderten deutsche Literatur, Philosophie, Musik, waren aber zugleich entschiedene Gegner des Deutschen Kaiserreichs, wie es 1871 entstand. Sie verneinten, manche verabscheuten sogar den militärischen Pomp, die chauvinistischen Ansprüche der nationalistischen Presse und der konservativen Politiker. In diesem zwiespältigen Verhältnis zu Deutschland – Ja zu Goethe und Schiller, Nein zu Bismarck und Kaiser Wilhelm – waren sich Liberale und Konservative, Christen und Sozialrevolutionäre einig. Lew Tolstoj und Wladimir Solowjew, Nachfolger der Westler und der Slawophilen.> [Aus: Einander erkennen, S.87]

 

 

 

<Thomas Mann schrieb 1917/18 in seinen ‚Betrachtungen eines Unpolitischen‘: „Ein echter, ein ganzer Russe werden“, sagt Dostojewski in einem Aufsatz „heißt vielleicht nur (das heißt letzten Endes, vergessen Sie das nicht) – ein Bruder aller Menschen werden, ein Allmensch, wenn Sie wollen.“ Ist das Nationale und das Menschliche, ist der menschheitliche Sinn des Nationalen je auf deutschere Art verstanden und ausgesprochen worden, als es hier durch den größten russischen Moralisten geschieht? … Dostojewski sagt ein wenig weiterhin: „Aber die Hauptschule des Christentums, die das Volk durchgemacht hat, das sind die Jahrhunderte der zahllosen Leiden und Heimsuchungen, von denen seine Geschichte berichtet, die Jahrhunderte, in denen es von allen verlassen und niedergetreten war, und dabei für alle und alles arbeitete …“ Die Entstehungsgeschichte deutscher und russischer Humanität – ist nicht auch sie dieselbe, - eine Leidensgeschichte nämlich? … Wenn Seelisches, Geistiges überhaupt als Grundlage und Rechtfertigung machtpolitischer Bündnisse dienen soll und kann, so gehören Rußland und Deutschland zusammen: ihre Verständigung für jetzt, ihre Verbindung für die Zukunft ist seit den Anfängen des Krieges der Wunsch und Traum meines Herzens, und mehr als eine Wünschbarkeit: eine weltpolitisch-geistige Notwendigkeit wird diese Verständigung und Verbindung sein…> [Aus: Einander erkennen, S.90]

 

<Zwei Herren schrieben allen Ernstes, die Wehrmacht habe im Osten einwandfrei ‚ritterlich‘ gekämpft, sei von der Zivilbevölkerung geliebt und geachtet worden und habe nur gewisse ‚Banden‘ hin und wider bekämpfen müssen. Diese beiden und noch andere Briefschreiber wollten, daß ich die Authenizität des berüchtigten ‚Ehrenburg-Aufrufs‘ zum Morden und Vergewaltigen bestätige. Hier muß ich nun zum ziegstenmal wiederholen, daß dieser ‚Aufruf‘ eine plumpe Fälschung war, in einem äußerst schlechten Russisch verfaßt, so daß man die ungeschickte Übersetzung aus einer Fremdsprache erkennen kann.> [Aus: Das Gift von vorgestern, S.106]

[Anmerkung: Der im Nachkriegs-West-Deutschland {mit solchen charakteristischen Blüten wie beispielsweise der Organisation Gehlen (ab 1956 BND), der verbreiteten Landserheftchen (ab 1953) und der Deutschen Soldaten-Zeitung und National-Zeitung (ab 1950/51} eifrig kolportierte angebliche Ehrenburg-Aufruf soll gegen Ende des Krieges die Sowjet-Soldaten angespornt haben. DER SPIEGEL 36/1962: <Mindestens seit zehn Jahren, seit der Autor Walter Görlitz den Schändungsaufruf in seinem Werk »Der Zweite Weltkrieg« zitierte und kommentierte (“Ein Aufruf, der alle Verstöße - gegen das Völkerrecht, - welche sich das nationalsozialistische Regime hatte zuschulden kommen lassen... in seiner Scheußlichkeit verblassen ließ"), wird dieser Text dem Sowjet-Autor Ehrenburg in Deutschland immer wieder öffentlich angelastet.>

„Tötet, tötet! Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist, die Lebenden nicht und die Ungeborenen nicht! Folgt der Weisung des Genossen Stalin und zerstampft für immer das faschistische Tier in seiner Höhle. Brecht mit Gewalt den Rassehochmut der germanischen Frauen. Nehmt sie als rechtmäßige Beute. Tötet, ihr tapferen, vorwärtsstürmenden Rotarmisten!“]

 

<Ich bekenne mich schuldig, weil ich im Januar/Februar 1945 in Polen und in Ostpreußen nicht energisch genug gegen Marodeure und Gewalttäter vorgegangen bin, obwohl schon das Wenige, was ich zu tun versuchte, mich dann für neuneinhalb Jahre ins Lager brachte; viele meiner Kameraden haben energischer und erfolgreicher die Verbrecher aus der eigenen Truppe bekämpft.> [Aus: Das Gift von vorgestern, S.107]

 

<Über diese Probleme kann ich als sachverständiger Zeuge urteilen. Ich war damals bei der Roten Armee. Die Abteilung für deutschsprachige Propaganda, zu der ich gehörte, war mit der politischen Verwaltung der Heeresgruppe unmittelbar verbunden; wir wußten genau, welche Anweisungen vom obersten Kommando kamen. Und da wir oft vorne eingesetzt wurden, wußten wir auch, wie die Stimmung in der Truppe war. So muß ich sagen, daß 1943 und auch noch 1944 die Einstellung zu Deutschland und die Stimmung in der sowjetischen Armee grundsätzlich anders waren, als sie im Winter 1944/45 wurden. - Was hatte sich bis dahin geändert? Inzwischen war man bereits durch alle eigenen Gebiete marschiert, die früher von der Wehrmacht besetzt gewesen waren, und hatte viel Schlimmes auf der ‚verbrannten Erde‘ gesehen. Es kamen neue Soldaten, Kerle aus diesen früher besetzten Gebieten, und viele von ihnen hatten Wut im Bauch, waren äußerst deutschfeindlich gestimmt. Aber auch die alten Soldaten wurden mit der Zeit immer zorniger wegen des andauernden Krieges. Es war ja schon 1943 alles entschieden. Nach Stalingrad, nach der Schlacht um Kursk und Orjol war es ja klar, daß der Krieg bereits von uns gewonnen war, klar für jeden Frontkämpfer. Dann waren auch die Alliierten im Westen gelandet, Frankreich und Italien befreit. Jeder Soldat verstand: Hitlerdeutschland hatte das Spiel verloren. Deswegen verbitterte der andauernde Widerstand der Wehrmacht unsere Leute immer mehr. Warum wollten denn die noch kämpfen?> [Aus: Wieder Nationalismen, S.112]

<Im Dezember bekamen wir etwa ein Dutzend sogenannter Strafkompanien zugeteilt. Eine Strafkompanie bestand aus ein- oder anderthalbtausend Mann, die aus Straflagern kamen. Und das waren keine politischen Gefangenen, sondern gewöhnliche Verbrecher, viele Berufsdiebe und dergleichen. Sie wurden zum Durchbruch bei der Truppenspitze eingesetzt. Und ebendiese hausten am schlimmsten in deutschen Dörfern und Städten.> [Aus: Wieder Nationalismen, S.113]

 

<Für mich ist die wichtigste Voraussetzung einer objektiven Betrachtung der Geschichte ein deutliches Unterscheiden von staatspolitischen Traditionen und geistig kulturellen Überlieferungen. Die Geschichte der Staaten und politischen Parteien ist wohl sehr stark und unmittelbar mit der Geschichte des geistigen nationalen Lebens verbunden, dennoch sind Staatsmacht und Nation grundsätzlich verschiedene, oft auch einander widersprechende Wirklichkeiten. Unterschiedlich, widersprüchlich und manchmal direkt gegensätzlich sind einerseits staatspolitische, andererseits geistige nationale Traditionen.> [Aus: Wieder Nationalismen, S.109]

<An verschiedenen Nationalismen litten und leiden immer mehr Menschen auf allen Kontinenten. In der Sowjetunion gibt es den großrussischen Nationalismus ebenso wie viele andere Nationalismen im Kaukasus, in der Ukraine, in baltischen Ländern, in Mittelasien, in Ostsibirien, in Moldawien. – Die Nationalismen der unterdrückten Völker sind verständlich, und dennoch bestimmen sie auch ungerechte, gefährliche Entwicklungen. Ungerecht und gefährlich ist z.B. der Russenhaß in mehreren sowjetischen Republiken. (…) Aber weil die Staatssprache der Sowjetunion Russisch ist und die Politik der Regierung sowie die herrschende Ideologie oft vom großrussischen Nationalismus ornamentiert wird, glauben die Nationalisten der anderen Völker nun, alle Russen hassen zu müssen, sie wollen den sowjetischen Staat nicht von der von ihm unterdrückten russischen Nation unterscheiden.> [Aus: Wieder Nationalismen, S.116]

 

<Doch nach den finsteren Erfahrungen unseres Jahrhunderts schien es vielen, die Weltgeschichte habe alle die lichten Vorahnungen der großen Denker endgültig in das Reich der Träume verdrängt. – Je mächtiger sich die Staaten entfalteten, desto fremder, ja gefährlicher wurden sie ihren Völkern; je unaufhaltsamer die mörderischen Gewalten der Staatsmächte wuchsen, je selbstsicherer die Staatsmänner mit diesen rational wissenschaftlich berechneten Gewalten ihre internationale Politik unterbauten, desto wahnsinniger verwirrte sich die gesamte Weltpolitik. Die konsequent logischen Rechnungen drohen im Absurdum, in der Apokalypse aufzugehen. – Die Gefahr des Weltuntergangs, die erstmalig am 6. August 1945 in Hiroshima offenkundig wurde, bleibt noch immer von der Mehrheit der Menschen kaum erkannt.> [Aus: Ein Deutscher – ein Weltbürger (gemeint ist der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker), S.123]

 

<Die nationale und soziale Revolution in Vietnam ging ungehemmt in Eroberungsfeldzüge über. Die Freiheitskämpfer von gestern kämpften nun in Kambodscha und Laos um die seit Jahrhunderten von den Kaisern Vietnams beanspruchten Gebiete.> [Aus: Abschied von den Hebammen, S.194]

 

<Im September 1945 verfaßten Albert Einstein und Thomas Mann zusammen mit einigen amerikanischen Publizisten und Wissenschaftlern eine Erklärung: „Die erste Atombombe hat nicht nur die Stadt Hiroshima zerstört; sie hat auch unsere traditionellen, längst überholten politischen Ideen endgültig vernichtet … Der Bestand unserer Zivilisation hängt davon ab, daß wir die Wissenschaft der menschlichen Beziehungen pflegen: die Fähigkeit von Menschen verschiedenster Art, in derselben Welt in Frieden zusammenzuleben und zusammenzuarbeiten.“> [Aus: Wissenschaft, Politik und Moral, S.198]