2000

 Philosophische Reflexionen zwischendurch:

 

Die Philosophie entwächst den Erbhöfen der Universitäten

<...Was in den neuen philosophischen Öffentlichkeiten landauf, landab in den letzten Jahren entstanden ist, geschah und geschieht zumeist unter höchstem persönlichen Einsatz und mit erheblichem finanziellen Risiko. Hier sind keine akademischen Beamten am Werk. Der Tatendrang speist sich nicht aus dem Quell einer Planstelle. Eine Idee steht am Beginn, dann die Lust, sie umzusetzen, eine nötige Prise Selbstvertrauen, also der Stoff, aus dem die Zukunft gewebt ist, der vielzitierte “Ruck”, er ist da! Welcher Zeitungsredakteur hat diese Dimension des philosophischen Praktikers wirklich gewürdigt? Und dabei steht und fällt der Erfolg des freischaffenden Philosophen auch eben damit, dass er es vermag, die Besucher seiner Kurse, Seminare und Cafés mit diesem élan vital mitzureißen.

Nein, es ist etwas grundsätzlich Neues, was entsteht. Die Philosophie entwächst den Erbhöfen der Universitäten, Forschungseinrichtungen und auch der Volkshochschulen. In einem emphatischen Sinne möchte ich sagen, sie gewinnt eine Freiheit, eine Freiheit, die sie vielleicht einmal hatte in der Antike...>

Aus der Zeitschrift “Information Philosophie” 3/2000, S. 60. Darin unter dem Stichwort “Philosophische Praxis” der Artikel von Peter Vollbrecht: “Vision und Wirklichkeit Philosophischer Cafés” (S.58-61).

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Karrierewissen vs. Laienwissen

(Cusanus)

<...Der Laie tritt anfangs mit schroffem Selbstbewusstsein dem aufgeblasenen Gelehrten gegenüber. Ein Büchergelehrter, urteilt er, sei wie ein Pferd, das an einer Krippe angebunden ist: es frisst nur, was ihm vorgesetzt wird. Sein Geist ist gefesselt, er bekommt nicht die natürliche, seinem Wesen gemäße Nahrung, nämlich die Erkenntnis der Sachen selbst. Worte und Bücher sind zwischen die Sache und ihn getreten, ohne ein bewusstes Losreißen von den Autoritäten kommt er nicht zur Weisheit. Flasch zufolge hat Cusanus den Laien erfunden, um seine Distanz zum Universitätswissen zu markieren und zu entwickeln. Der Laie will sich an die Natur selbst wenden, nicht an die Bücher. Die Natur ist das Buch Gottes, in ihr sollen wir lesen. Diese Metapher wurde zur Kampfparole bei der Ablösung von der aristotelischen Philosophie zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert.>

 

Aus der Zeitschrift “Information Philosophie” 2/2003, S. 86. Darin unter dem Stichwort “Meinung-Trends-Kontroversen” der Artikel “Die Entwicklung der Philosophie des Cusanus. Kurt Flaschs Darstellung der Philosophie des Nikolaus von Kues. (Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung, 2001, Klostermann, Frankfurt).

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Konformismus als Problem institutionalisierter Wissenschaft (Mitscherlich)

<Was sich als wissenschaftliche Überzeugung derm Selbstbewußtsein präsentiert, hängt also keineswegs nur von von Beweisbarem ab, von faktischem Sachwissen, sondern in nicht geringem Ausmaß vom Druck, den Gruppendogmen auf das einzelne Gruppenmitglied ausüben. Wer zu seiner Zeit nicht dem materialistischen Monismus oder heutzutage nicht dem faktorenanalytischen Positivismus Ehrerbietung bezeigt, gilt als Außenseiter. Er kann nicht auf Karriere als wissenschaftlicher Arbeiter rechnen. Derlei Machtmittel können schon Konformität erzeugen und bewahren; sie funtionieren, wie eine Majoritätsreligion, als selbstverständliche Grundlagen der Gemeinsamkeit,> (S. 55)

 

(Aus: Alexander Mitscherlich: “Krankheit als Konflikt. Studien zur psychosomatschen Medizin I”, edition suhrkamp 164, Ffm 19695   Erstausgabe 1966)

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Organisation der Wissenschaft vs. Erkenntnisse, die wirklich ernst sind, die unser Leben betreffen (Adorno)

<Ich möchte dabei gar nicht reden etwa von all den Problemen, die deshalb der sogenannten wissenschaftlichen Bearbeitung sich entziehen, weil ihr Inhalt mit der Organisation der Wissenschaften in Widerspruch stünde. Wenn Sie also etwa versuchen würden, im Sinne einer solchen Idealbestimmung der Umsetzung von Erkenntnissen in Wissenschaft, damit sie welche werden, an Fragen zu rühren, welche das Funktionieren der Gesellschaftsordnung überhaupt, oder die Notwendigkeit bestimmter Machtgruppierungen innerhalb der Gesellschaft, oder die Dignität von bestimmten moralischen und Sittenordnungen in der Gesellschaft betreffen würden, dann würden Sie höchstwahrscheinlich überhaupt gar keine Wissenschaft finden, die sich dazu bereit erklärt, das zu machen, sondern die Wissenschaft würde dann wahrscheinlich erklären: ja, hier sind wir überfragt, das ist dann eine Sache der philosophischen Weltanschauung; und wenn einem das dann die Wissenschaften sagen, dann meinen sie das im allgemeinen sehr unfreundlich. Wenn sie in diesem Zusammenhang nämlich von Philosophie reden, dann wollen sie damit nicht der Philosophie jenes Recht auf Selbstreflexion der Erkenntnis zugestehen, von dem wir das letzte Mal gesprochen haben, sondern sie wollen damit sagen, daß eigentlich in dem Augenblick, wo es um Erkenntnisse geht, die wirklich ernst sind, die wirklich etwas betreffen, wovon wesentlich unser Leben abhängt, daß dann eigentlich der Bereich der Unverbindlichkeit, der Phrase, des Geschwätzes anfängt, und gerade an der Stelle sie sich eigentlich nicht mehr für recht kompetent erklären.> (S. 21)

 

(Aus: Theodor W. Adorno: “Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie” Junius-Drucke Frankfurt o. J. - Diese Vorlesung hielt Adorno im WS 1957/58 in Frankfurt)

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Wissenschaftsinstitutionen (Universitäten et. al.)

vs.

Kreativität

 

Nobelpreisträger der Physik Robert B. Laughlin

 

<… habe ich als Student so hingebungsvoll studiert, dass ich keine Zeit für Politik oder Zerstreuungen hatte – was in Berkeley zu Beginn der 1970er ein ganz schönes Kunststück war. Der Lerneifer ging jedoch in die falsche Richtung, denn in den Tiefen der Bibliothek erledigte ich die ganze Zeit hindurch nicht etwa meine Hausaufgaben, sondern etwas, was die Vermittler von Fördergeldern in Washington aus tiefstem Herzen hassen und mittlerweile abschätzig als „von Neugierde angetriebene Forschung“ bezeichnen – rasche, abseitige Erkundungen von Sachen, die meinem Urteil nach bedeutsam waren.> (S. 261/262)

 

<Der Drang in kreativer Freiheit zu leben, ist in uns allen mächtig, und am Ende erliegen ihm trotz aller Warnungen immer ein paar Menschen. Ob dieser Drang kulturell oder erblich bedingt ist, könnte man wochenlang diskutieren, sicher ist aber, dass er der wahre Ursprung von Kunst, wissenschaftlich bedeutungsvollen Entdeckungen und dem für die moderne Zivilisation charakteristischen starken Antrieb ist, Neues zu entwickeln.> (S. 264)

 

< … die Praxis meiner Universität, nur rundum qualifizierte Studenten aufzunehmen, ist verheerend effizient darin, die Rebellen draußen zu halten. Gelegentlich schlüpft jedoch der eine oder andere durch, und dann können wir gemeinsam an einem bedeutsamen Problem arbeiten - und sei es auch nur für eine kurze Weile.> (S. 265)

 

<Zu dem Preis, den man zu entrichten hat, wenn man sein Leben grundlegenden Entdeckungen widmet, gehört auch, dass man eine sozioökonomische Nische für abhängige Arbeit besetzt. An solcher Arbeit ist nichts auszusetzen. Sie läuft aber darauf hinaus, dass man von wichtigen politischen Treffen ausgeschlossen ist, in denen jene, die etwas von Geld verstehen, darüber entscheiden, was „wahr“ ist und was nicht, wobei sie oft vorsätzlich unbequeme, aus der Werkshalle kommende Tatsachen missachten. (S. 269)

(…)

Es gibt jedoch einen Kernbestand von Leuten, die diese Demütigungen standhaft ertragen, weil sie begreifen, dass grundlegende Entdeckungen sowohl möglich als auch bedeutsam und außerdem nicht von Managern zu steuern sind. Der Gedanke, solche Lenkung sei möglich, ist ebenso eine Antitheorie wie die Vorstellungen, es gebe keine Entdeckungen mehr zu machen oder die Wirtschaft werde sie herbeizaubern. Die entscheidenden Durchbrüche der Wissenschaft sind stets von integren Persönlichkeiten vollbracht worden, die ihren eigenen Weg gingen, sich der Autorität widersetzten und dafür einen hohen Preis zu zahlen hatten.> (S. 270)

 

(Aus: Laughlin, Robert B.: Abschied von der Weltformel. Die Neuerfindung der Physik, Piper-München 2009. Ursprünglich New York 2005: „A Different Universe – Reinventing Physics from the Botton Down“.)

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