Wollust als Sünde

25.03.2011

 

Wollust als Sünde

 

Man kann Umberto Eco nicht des gläubigen Christentums verdächtigen – er ist atheistischer Humanist. In seinem berühmten Buch „Der Name der Rose“ (dtv 1986), das sich im Spätmittelalter in einer nordwestitalienischen Abtei abspielt, läßt er solch einen Humanisten im mönchischen Gewand auftreten: sein dedektivischer Romanheld William von Baskerville. Derselbe vertritt offenbar in jenem mittelalterlich-mönchischen Gewand so manche Weisheit von Umberto Eco selber. Einige dieser Weisheiten, die er seinem Schüler verkündet, haben auch mir einiges Neues gebracht. Der Schüler Adson berichtet beispielsweise von einem Gespräch:

 

<“Du mußt begreifen“, erklärte mein Meister, „Benno ist einer großen Wollust zum Opfer gefallen, die von anderer Art ist als die Wollust Berengars [ein homosexueller Mönch] und auch als die des Cellerars [der mönchische Kellermeister, der sich heimlich junge Dorf-Mädchen besorgen läßt]. Er frönt, wie viele Forscher es tun, der Lust am Wissen. Am Wissen um seiner selbst willen. Solange er zu einem Teil dieses Wissens keinen Zugang hatte, wollte er sich seiner fast um jeden Preis bemächtigen. Nun hat er sich seiner bemächtigt. (…) Du fragst jetzt vielleicht, wozu es gut sein soll, so große Wissensschätze zu hüten, wenn man nicht bereit ist, sie auch den anderen Forschenden zur Verfügung zu stellen. Doch eben darum sprach ich von Wollust. Von Wollust, Adson, die etwas anderes ist als der Erkenntnisdrang eines Roger Bacon, der die Wissenschaft in den Dienst der Menschen zu stellen trachtete und daher nicht nach Erkenntnis um ihrer selbst willen strebte. Bennos Wissensdurst ist bloß eine unstillbare Neugier. Hoffart des Geistes, eine von mehreren Arten für einen Mönch, die Gelüste seiner Lenden zu stillen in verwandelter Form, oder auch die Glut, die einen anderen zum Glaubenskämpfer macht, oder zum Ketzer. Es gibt nicht nur Wollust des Fleisches, Adson. Wollust ist auch, was Bernard [ein fanatischer Inquisitor – Scheiterhaufen pflastern seinen Weg] empfindet, überzogene Lust an der Gerechtigkeit, die sich bei ihm mit Machtlust paart. Wollust am Reichtum empfindet unser heiliger und nicht mehr römischer Pontifex [gemeint ist Papst Johannes XXII. in Avignon]. Wollust am Zeugnisablegen, am Wandel, an Buße und Tod empfand Remigius [ein ketzerischer Mönch] in seiner Jugend. Und Wollust am Bücherlesen empfindet Benno. Sie ist wie alle Wollust – wie die des Onan, der seinen Samen zu Boden fallen ließ – eine sterile Lust, die nichts mit der Liebe zu tun hat, nicht einmal mit der fleischlichen…“

„Ich weiß“, entfuhr es mir unwillkürlich. William überhörte es, fuhr aber fort: „Wahre Liebe sucht das Wohl des geliebten Wesens.“ >

(S. 505 f. – im Kapitel „Fünfter Tag, Vesper“, zum Schluß).

 

Was fasziniert mich an dieser Ansicht? Interessant ist, daß Eco offenbar hier ein Prinzip der ‚perversen Wollust’ (halbwegs) aufgedeckt hat. Daß es nur ‚halbwegs’ ist, erkennt man etwa daran, daß er noch an der (populären) freudianischen Sublimierungstheorie hängt - Selbst wenn er ihr nicht mehr nur jene Veredelung ins Geistige zugesteht – sondern auch ein Verlieren ins Monomanische, Fanatische, Perverse. Aber die Sublimierung ist ja nicht das zentrale Element seiner Idee. Ich finde viel mehr jene Verallgemeinerung hoch interessant, indem er scheinbar völlig heterogene Elemente miteinander verbindet mit Hilfe des Begriffs ‚Wollust’. Und ich frage mich: was ist das verbindende Element (wenn es nicht die Sublimierung ist)?

 

Was mir dazu einfällt, ist das psychoanalytische Konzept ‚Agieren’. Was meines Wissens bei dem Gedanken an ‚Agieren’ gewöhnlich unter den Tisch fällt, ist der Wollust-Aspekt – verbunden mit dem Aspekt des Narzißmus (des positiven Selbstgefühls). Das kann zum Beispiel eine sadistische Wollust sein, wenn man gut meinende Leute, die man überheblicherweise nicht ernst nimmt, mit idiotischem Verhalten abnervt (und sich dabei narzißtischerweise äußerst gescheit vorkommt).

 

‚Agieren’ tut meines Wissens jemand, der irgend eine unbewußte Kraft in sich spürt, die irrational nach Außen drängt. Jemand, der beispielsweise krankhafte Sexualphantasien auf andere Leute projiziert (und sich dabei toll vorkommt). Oder Antisemiten, die auf Juden etwas projizieren, das weit weniger mit den Juden als mit ihnen selber zu tun hat (und sie kommen sich als die Größten dabei vor). Oder, wie der obige Sadist, der jene gut meinenden Leute nicht ernst nimmt, weil bei ihm selber irgendwas fundamental nicht stimmt.

 

Soweit ungefähr war mein Wissen, bis ich auf jene Stelle bei Umberto Eco stieß. Er öffnete mir plötzlich eine Tür in ein Gebiet, das vieles gleichzeitig zu erfassen erlaubt. Ich denke die Crux der Sache ist, daß jemand irgend eine tiefgreifende Versagung in sich spürt. Das muß er/sie dann im Leben ‚ausagieren’.

 

In diesem Panoptikum findet sich der Sexualmörder neben dem Kinderschänder, der Leder-Domina und dem gewöhnlichen Onanisten, der total auf Weibergeschichten pornografisch fixiert ist. Es findet sich der sadistische Mathematiker, der mit seinen Formelkünsten (in Lehrbüchern und Vorlesungen) sich selbst inszeniert und dabei seine Studenten quält; die Ehefrau, die ihren Ehemann erniedrigen will (und umgekehrt) und Terroristen, die sich im Haß gegen spezifische Gemeinheiten der Welt verzehren. Es finden sich die obsessiven Reichen, deren Wollust im möglichst hochpreisigen Konsum besteht. Und es findet sich der  Diktator, der sich an der Unterdrückung eines Volkes, und der Imperialist, der sich an Ausbeutung und Vernichtung ganzer Völker berauscht. – Die Liste ist damit keineswegs erschöpft, man braucht beispielsweise nur an Folterer oder Leute wie den schrecklichen Juristen Roland Freisler und Propagandisten à la Goebbels zu denken.

 

Die Ansicht, daß es sich bei allen diesen Beispielen um ‚Agieren’ handelt, das ein inneres schwarzes Loch ausfüllen soll, und das mit Wollust bzw. narzißtischer Befriedigung (also positivem Selbstgefühl, d.i. Glück) verbunden ist, hat für mich was Bestechendes: daß es sich also jeweils um Wollust als Sünde handelt.

 

Auch finde ich den humanistischen Schluß dann bei Eco keineswegs an den moralistischen Haaren herbeigezogen: Diese Leute sind unfähig zur wahren Liebe, welche eben nicht rein narzißtisch ist (narzißtisch darf Liebe schon sein); also rein selbstbezogen, ohne auf den Anderen ernsthaft Bezug zu nehmen. Diese Leute haben demgemäß, bzgl. ihrer schwarzen Interessen, wenig Empathie und sind logischerweise argumentationsfeindlich. Ihre Selbstbezogenheit beruht auf dem Schwarzen Loch in ihrer Seele, dem sie zwanghaft dienen müssen. Ihre Liebe zum Anderen ist dem Schwarzen Loch untergeordnet.

 

Dann taucht natürlich die Frage auf, wie kommt es zu diesem Schwarzen Loch in der Seele?

Beim Onanisten-Pornografisten beispielsweise ist die Sache schnell geklärt: psycho-soziale Versagung von Jugend an, was Beziehung zu Weibern anbelangt. Die Sache mit der 13-jährigen ‚Lolita’ wurde meines Ermessens kurz und knapp, aber ausreichend, bei Nabokov schon gleich am Anfang seines berühmten Romans erklärt. Auch mit welcher Skrupellosigkeit ein Besessener des Schwarzen Loches schlimmste Verbrechen begeht, kann man bei Nabokov’s großem Werk ebenso folgerichtig erkennen.

 

Ich denke, bei genauerer Analyse wird man auch die sonstigen möglichen Versagungen erkennen, die für andere spezifische Schwarze Löcher zuständig sind. Das wäre also eine regelrechte Forschungsaufgabe.
 

Selbstverständlich ist dieses Problem eingebettet in das Gesellschaftsproblem insgesamt. Es drückt aus, daß es bei ‘uns’ keine wirkliche Aufgehobenheit der Menschen gibt - sondern prinzipiell weitgehende Entfremdung (aller von allen, und jeder von sich selbst) dominiert.