Literatur und Theorie

 

17,03,02

 

Literatur und Theorie oder Literatur vs. Theorie?

 

Eines vorweg: Als ‚Literatur‘ verstehe ich hier die Schriftsteller-Literatur z.B. von Romanen.

 

Um zu verdeutlichen, worum es mir geht, möchte ich ein berühmtes Goethe-Zitat an den Anfang stellen:

<Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum.>  [Faust 1, Studierzimmer. (Mephistopheles)]. Ich nehme jetzt für das Folgende einmal an, dieser Gegensatz betrifft den Literaten Goethe selber – sowie noch eine Reihe anderer Literaten nach ihm.

Nach jener Auffassung ist die Beschäftigung eines Literaten mit Theorie was Minderwertiges gegenüber dem Eintauchen in das pralle farbige Leben –  um dasselbe dann literarisch adäquat darzustellen.

Dieser Auffassung diametral gegenüber steht die Ansicht, dass die Anwendung der Sprachfunktion Argumentation, die zu sinnvoller Theoriebildung führen kann, bislang die höchste Errungenschaft der menschlichen Sprache darstellt (und womöglich in ihrer Verwendung deswegen die höchste Form des menschlichen Seins darstellt – vgl. Sokrates und Euklid).

Die rein beschreibende Sprachfunktion eines Schriftstellers kann durchaus das pralle farbige Leben (mehr oder minder gelungen) abbilden, sofern er selber daran aktiven Anteil hat (oder hatte).

Jedoch analog dazu: Theoriebildungsprozesse abzubilden, würde einem Schriftsteller ebenfalls gelingen, sofern er selber sich um die tristen grauen Theorien beispielsweise eines Kepler (aktiv) kümmern würde und sich darin mit den zugehörigen Argumentationen der damaligen Zeit auskennen würde – auch um Keplers komplizierte Theorie-Verwicklungen und Irrtümer zu erfassen.

Sicher gibt es Schriftsteller, die das Letztere können. Ich denke hier etwa an Solschenizyn, z.B. in seinem Geschichtsopus „Das Rote Rad“ (über den 1.WK), wo er sich beispielsweise auch mit den Theoriebildungsprozessen eines Lenin befasste. Also bei Solschenizyn scheint es meiner Ansicht nach keinen Gegensatz von Theorie vs. Literatur zu geben, da er ja ein hervorragender realistischer Schriftsteller ist. Er kann perfekte Literatur schreiben, ohne jenen obigen klassischen Gegensatz des Goethe=Mephisto zu akzeptieren.

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Ich persönlich habe ja gar nix gegen eine Literatur ohne Theorie. Sofern sie tatsächlich rein beschreibend und realistisch ist, bin ich sogar ein regelrechter Enthusiast solcher (z.B. biografischer) Literatur, vor allem, wenn hier noch manchmal poetische Momente hineinspielen!

Wenn Literatur jedoch anfängt, unter dem Anschein des Chronisten diverse fabulierte (unwahre) Konstruktionen, also Legenden zu basteln, dann wird es für mich kritisch. Das halte ich eigentlich für Scharlatanerie – wird aber, wenn man was diesbezügliches nachweisen kann,  gerne von literarischen Enthusiasten als ‚künstlerische Freiheit‘ gerechtfertigt. Und in der Tat scheint in dieser Hinsicht einiges an Tradition in  der Literatur zu existieren. (Vgl. dazu als Beispiel: Marianne Krüll: Im Netz der Zauberer. Die andere Geschichte der Familie Mann. Fischer, Ffm 1993).

Dann wäre es, meiner Ansicht nach, doch wesentlich ehrlicher, ganz eindeutig in die Sphäre der Fiktion bis hin zum Krimi oder Thriller zu wechseln, um als Leser allerlei mehr oder minder interessante Fiktionen in Ruhe betrachten zu können, ohne unbedingt annehmen zu müssen, sie seien tatsächlich real gewesen.

Und genau deswegen gibt es für mich mittlerweile nur drei Arten ernstzunehmender Literatur: einerseits die realistisch beschreibende (möglichst auch noch mit poetischen Elementen versehene) Literatur – aber nur, wenn sie wirklich versucht ehrlich, d.h. ohne verlogene Legendenbildungen zu sein; sodann die sehr ernsthafte Literatur, welche auch die realistische Darstellung von Theorie und Argumentation nicht scheut; und drittens Fiktions-Literatur, die möglichst viele realistische (wenn auch nicht wirklich reale) Elemente in sich birgt. - Diese drei Literaturarten brauchen sich keineswegs untereinander auszuschließen - doch dies ist ein anderes Thema.

 

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Schließlich steht noch die Frage im Raum, ob ein regelrecht theoriefeindlicher Schriftsteller, der davon überzeugt ist, sein Wissen und Können beruhe im Wesentlichen auf seiner hervorragenden Beobachtungsgabe, und Theorie sei eher hinderlich, überhaupt in der Lage ist, gewisse soziale Problemstellungen sinnvoll anzugehen; z.B. Beziehungsprobleme, Erziehungsprobleme, politische Probleme usw. Ich denke, dass er vor der ernsthaften Darstellung solcher Probleme eine hl. Scheu hat und sie eher meidet wie die Pest. Denn lt. Popper beginnt das eigentlich theoretische, also wissenschaftliche Denken nicht bei der reinen Beobachtung sondern bei der Wahrnehmung eines Problems, das einer theoretischen Lösung bedarf.

Ich vermute außerdem, dass so ein explizit theoriefeindlicher Schriftsteller zur Legendenbildung neigt, da ihm ein wissenschaftliches Gewissen fehlt. Die Frage wäre dann also auch noch, inwieweit man solch einem Schriftsteller, wenn er sich sozusagen als Chronist darstellt,  Glauben schenken kann bzw. inwieweit man ihn für voll nehmen kann. Ich nehme an, dass es da  ernsthafte Begrenzungen gibt - auch wenn es für einen unbefangenen Leser schwierig sein dürfte, dieselben zu erkennen. Doch reicht vielleicht schon eine Portion gesunder Skepsis bzgl. der (vorgeblichen) Wahrheit all des Aufgetischten, auch wenn diese Skepsis den Enthusiasmus für den Schriftsteller (genährt durch blinden Glauben) abmildern sollte. Man sollte die Sache einfach als Fiktion mit realistischen  Elementen ansehen - und Ruhe ist (obwohl schon noch ein gewisses Unbehagen herum grummelt)...

 

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Karl R. Popper in ‚Objektive Erkenntnis‘, 1973

<Die wichtigsten menschlichen Schöpfungen mit den wichtigsten Rückkopplungseffekten auf uns selbst und besonders auf unser Gehirn sind die höheren Funktionen der menschlichen Sprache; genauer: die deskriptive Funktion und die argumentative Funktion. (S.147)

[...] Dieser Entwicklung der höheren Funktion der Sprache verdanken wir unser Menschsein, unsere Vernunft. Denn unser Urteilsvermögen ist ausschließlich kritisches Argumentiervermögen. (S.149) >