Christentum

20.01.08

 

Die Rolle des abendländischen Christentums heutzutage

 

Durch den freundschaftlichen Kontakt mit dem schon lange pensionierten Pfarrer Diedrich, der jedoch immer noch aktiv seiner Michaels-Bruderschaft angehört, bin ich in den letzten Jahren etwas intensiver mit dem Christentum konfrontiert worden. Er hat mir z.B. theologische Bücher ausgeliehen von Tillich und Küng (die ich gut fand) sowie die Autobiografie (Via vitae, Kassel 1968) von dem Mitgründer Wilhelm Stählin der evangelischen ‚Michaelsbruderschaft’, wodurch ich mit dem mir völlig fremdartigen evangelischen Pfarrhaus-Bildungsbürgertum bekannt wurde.

 

Zu Diedrichs 85. war ich eingeladen in ein Gemeindehaus, wo seine Geburtstagsfeier stattfand. Etliche Michaelsbrüder samt Frauen waren anwesend. Ich kam erst später zum Kaffee und Kuchen (hab mir also den Kirchenchor, verschiedene Festreden und die fade Gullaschsuppe erspart, nicht jedoch das Absingen von deutschem Liedgut des 19. Jahrhunders, z.B. „Die Gedanken sind frei“, oder „Wenn alle Brünnlein fließen“ (Ju ja, Stube drin!)). Anschließend gab es eine Messe in der kleinen Kirche des Gemeindehauses, die von den Michaelsbrüdern (mit Weihrauch übrigens) gestaltet wurde und Diedrich hielt die Predigt über das Thema „Alles hat eine bestimmte Zeit“ (Prediger 3: Alles hat eine bestimmte Zeit, und jedes Vornehmen unter dem Himmel hat seine Zeit. Geborenwerden hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit; Pflanzen hat seine Zeit, und das Gepflanzte Ausreißen hat seine Zeit; Töten hat seine Zeit, und Heilen hat seine Zeit; Abbrechen hat seine Zeit, und Bauen hat seine Zeit; Weinen hat seine Zeit, und Lachen hat seine Zeit; Klagen hat seine Zeit und Tanzen hat seine Zeit; Steinewerfen hat seine Zeit, und Steinesammeln hat seine Zeit; Umarmen hat seine Zeit, und vom Umarmen sich Fernhalten hat seine Zeit; Suchen hat seine Zeit, und Verlieren hat seine Zeit; Aufbewahren hat seine Zeit, und Fortwerfen hat seine Zeit; Zerreißen hat seine Zeit, und Nähen hat seine Zeit; Schweigen hat seine Zeit, und Reden hat seine Zeit; Lieben hat seine Zeit, und Hassen hat seine Zeit; Krieg hat seine Zeit, und Frieden hat seine Zeit. Was für einen Gewinn hat der Schaffende bei dem, womit er sich abmüht?).

 

 – Um mich nun also auf diese sicherlich langweilige Christenveranstaltung in dem Gemeindehaus einzustimmen, überlegte ich mir, daß ich das Ganze als soziologische Feldstudie ansehen sollte, um mir ein Quantum Interesse an der Sache zu verschaffen.

 

Zu diesem Zwecke las ich noch mal den Rest der 850-Seiten von Stählin, die ich bisher ungefähr zu einem Drittel  innerhalb von 1-2 Jahren redlich gelesen hatte, quer, um mir einen authentischen deutschen Christen halbwegs klar zu machen. Anschließend diskutierte ich darüber mit Barbara, die ja eine gewisse Kompetenz hat, da sie selber aus einer protestantischen Familie kommt.

 

 

Ich kann leider nicht beurteilen, welche positive Rolle die Christen bei der Sorge für Kranke und Leidende spielen. Das möchte ich nicht ignorieren, deshalb habe ich es vorweg erwähnt.

 

Aber im Übrigen ist meine Sichtweise des Kirchen-Christentum mittlerweile ziemlich negativ. Ich sehe seine gesellschaftliche Rolle als verheerend an. Daß bourgeoise konservative Parteien mit ‚Christlich’ sich assoziieren, halte ich inzwischen nicht mehr für eine Verlogenheit, sondern ich denke, es handelt sich in der Tat um eine echte Beziehung.

 

Wie komme ich zu dieser kritischen Behauptung?

 

Fange ich einfach mal an.

 

  • Selbst wenn man die Idee des Christentums, vor allem das was Jesus in der Bergpredigt gesagt hat, philosophisch und moralisch für sehr gut hält, so gibt es immer noch das Hauptproblem, daß nicht nur an die Existenz eines persönlichen Gottes geglaubt wird, der alles lenkt, sondern vor allem, daß der Glaube an das ewige Leben, sei es das Paradies oder die ewige Verdammnis, die Sache schlechthin ist.  Denn dieser (für mich nicht nachvollziehbare) Glaube ist es, der den angeblichen Sinn des gesamten christlichen Kirchen-Rituals (Abendmahl, Beichte, Messe, Taufe, Beerdigung, Predigten, Gesang & Gebete usw.) rechtfertigt. Es wird also durch ein intersubjektives Objektivitätskriterium (d.h. weil alle dran glauben) ein meiner Ansicht nach irrealer Sinn kirchlicherseits als Axiom gesetzt: Es gibt ein Leben nach dem Tod.
  • Sobald die durch die Kirchen christlich erzogenen Menschen an diesen angeblichen Sinn wirklich glauben, machen sie in unendlicher Reihenfolge alle Liturgien und Rituale mit. Sie verbrauchen ihr Leben und ihren Lebenssinn in einer unendlichen Folge von langweiligem stundenlangem Geleiere um das ewig gleiche Leere. In unendlichen Variationen wird ein uraltes Buch (die Bibel) hin und her gequält, von einer Predigt-Interpretation in die Nächste, und für die gegenwärtige Analyse der Gesellschaft und des Individuums kommt nur ein Hauch von irgendeiner Ahnung auf, aber selten was Greifbares, Handfestes. Es wird also nicht nur Lebensenergie sinnlos verbraucht, es wird auch an Reflexion und Selbstreflexion gespart.
  • Durch die mangelnde gesellschaftliche Reflexion der gläubigen Kirchen-Christen ergibt es sich, daß sie gesellschaftliche Fehlentwicklungen entweder einfach mitmachen oder wenn sie denn doch als kirchlich oder sogar gesellschaftlich (allgemein akzeptiert!) katastrophal angesehen werden können, lediglich als äußeres ‚Teufelswerk’ betrachtet werden. (Beispiel 3.Reich). Zu weiteren Überlegungen reicht es logischerweise nicht. Da ist der ‚Teufel’ am Werk. Fertig aus. Der hat uns in Versuchung geführt – und wir sind darauf reingefallen. Wer aber, zum Teufel, dieser Teufel ist, darüber können Kirchen-Christen in aller Regel nicht reflektieren. - Insofern hat man mit der Masse der Kirchen-Christen einen riesigen Block der Reflexionsverweigerer bzgl. gesellschaftlicher Fragen vor sich. Von Kirchen-Christen als notorischen Reflexionsverweigerern kann man dementsprechend nicht erwarten, daß von ihnen neue Impulse zur humanistischen Gesellschaftsveränderung ausgehen. Eher kann man erwarten, daß sie solche aus Unverständnis und reflexiver Armseligkeit blockieren. Insofern sind sie prädestinierte Anhänger, Mitläufer, Mitmacher konservativer bourgeoiser Parteien, die sich als ‚christlich’ gerieren. Kirchenchristen sind insofern eine wichtige Säule bornierten ‚Spießertums’.
  • Eine spezifische Interessantheit des kirchlichen Christentums ist die Vorstellung von der Sünde. Christen sind voll der Sünde – und geben dies explizit in ihren Gebeten ununterbrochen zu (sie sind geradezu besessen von diesem Anerkenntnis der Schuld) – aber es wird ihnen ja (hoffentlich) durch die Gnade Gottes alle Sünde vergeben. Sie sollen nur beten und (vielleicht auch ein bißchen?) bereuen. Aber es ist klar: es ist offenbar vollkommen normal für einen Christen voll der Sünde, der Schuld und (natürlich) sündiger Gedanken zu stecken. Da gibt es den alten Adam, die Erbsünde, die Versuchung (die übrigens lt. Vaterunser offenbar auch von Gott selber ausgehen kann!), den Teufel und was nicht alles, was diese Sündhaftigkeit (implizit) für völlig normal erklärt - und damit (prinzipiell) rechtfertigt. – Man sieht also, daß Kirchen-Christen sich durch die  Kirchenritualien die Selbstreflexion und damit die wirkliche, reale (selbstkritische) Selbstveränderung ersparen. Sie bekommen ja sowieso durch Abendmahl, Gebete und Beichte ganz bequem immer wieder neu die Sünden erlassen. Außerdem halten sie Sünde für das Normalste der Welt. Sie kämen also qua Kirchenchristentum kaum auf die Idee, ihre sündhaften Wirklichkeiten selbstkritischen sozialpsychologischen Analysen  zu unterziehen und dafür definitive Zeit und Energie zu opfern, um sich schließlich positiv verändern zu können.
  • Das Kirchen-Christentum hat – kulturell betrachtet – seit der Aufklärung offenbar nur noch eine retardierende Rolle. Man hat das Gefühl, eine ungeheure Menge von Menschen versteckt sich hinter dem Rock der Kirchen, um vor den sich ständig verändernden Weltumständen Schutz zu suchen, statt sich mit ihnen offensiv im christlich-humanistischen Sinne auseinanderzusetzen. Und die Kirchen scheinen stolz darauf zu sein, diese Funktion zu erfüllen. Ihre Bediensteten verdienen ihren Lebensunterhalt daran. Der Staat und die Bourgeoisie findet diese Statik perfekt und unterstützt deswegen die Kirchen. Es wird dem Staat und der Bourgeoisie von den Kirchen-Christen nicht in ihre Angelegenheiten hereingeredet, sondern statt dessen werden Staat und Bourgeoisie passiv unterstützt von Aber-Millionen von Leuten, die sich ganz in ihre ‚Sünden’, ihre schäbige Schuld (wer weiß ob sie diese überhaupt sehen können?) und in Andachten, Gebete und Rituale als Lebensorientierung verlieren. - Staat und Bourgeoisie sind unkontrolliert von der Masse der kirchen-christlichen Menschen. Ja, sie bestehen selber zum großen Teil aus (sündigen) kirchen-christlichen Menschen. Brave Kirchen-Christen werden wohl kaum Probleme haben, eine passende Stelle im gesellschaftlichen Gefüge zu bekommen, da sie sich ja in die Angelegenheiten des Staates (der Obrigkeit) nicht einmischen, lediglich sich einfügen wollen.
  • Es gibt in der Tat einzelne Kirchenchristen, denen man unbedingt Hochachtung zollen muß. Doch sind es unter den oben genannten Gegebenheiten zwangsläufig immer nur Einzelne. Sie werden unter den gegebenen Voraussetzungen auch immer nur Einzelne bleiben. Die üblichen Pseudogemeinschaften des Kirchen-Christentums lassen sich auch beim besten Willen durch solche Einzelne nicht in lebendige Gemeinschaften mit lebendigen christlich-humanistischen Inhalten transformieren. Z.B. würde von kirchen-offizieller Seite kaum jemand auch nur im Entferntesten auf die Idee kommen, nach der Predigt zu dem obigen Thema „Alles hat eine bestimmte Zeit“ gewisse Lieder wirklich lebendigen modernen Liedgutes anzustimmen als da wären: „To every thing, turn turn turn, there is a season“ (Pete Seeger 1950 bzw. The Byrds 1965). Oder "Wenn ein Mensch lebt" (Puhdys 1972). - Aber selbst wenn sie es vielleicht machen würden, käme es am Ende wahrscheinlich nur zu einer grausamen Verstümmelung und das Gefühl, um das es geht, das gemeinschaftliche Lebendigsein, wäre weg bzw. kastriert.