Der Sociopath next door

12,03,04

 

Martha Stout – The Sociopath Next Door

(Random House Inc. New York 2005)

Das Buch gibt es auch auf Deutsch

 

Dies ist wieder eines der seltenen Bücher, die für mich wirklich so gut wie vollkommen o.k. sind. Es handelt sich im Grunde genommen um ein – im besten Sinne – philosophisches Buch, das von einer ausgesprochen kompetenten, US-amerikanischen (humanistischen) Psychologin geschrieben wurde. Als sie das Buch um 2003 schrieb (S.203), hatte sie schon eine 25 jährige Erfahrung mit Klienten, deren Leiden aufgrund von näheren Kontakten mit 'Soziopathen' zustande kamen. (Vgl. S.107). Obwohl eigentlich dasselbe gemeint ist, verwendet sie lieber den Ausdruck 'Soziopath' statt 'Psychopath'. Und für beide gibt es eine (für den Laien) überraschende Definition: das sind Leute, denen das Gewissen fehlt, also 'gewissenlose' Menschen.

 

Für Martha Stout ist klar: der normale Mensch mit Gewissen kann sich in solche gewissenlosen Menschen nur sehr schwer hineindenken – wenn überhaupt. Weshalb Soziopathen (zunächst) auch immer wieder leichtes Spiel mit ihren naiven Mitmenschen haben. Der normale Mensch kann sich gar nicht vorstellen, daß bei einem Soziopath der Apell an dessen mitmenschliches Verständnis lediglich ein inneres Grinsen über so viel Blödheit seines Gegenübers bei demselben hervorruft. Auch kann das Opfer eines Soziopathen selten irgendwelchen wohlmeinenden Zuhörern auch nur annähernd klar machen, daß jener (normal aussehende und vordergründig normal handelnde) smarte Mensch ein soziopathischer Schurke ist, und wie sich das konkret für das Opfer ausdrückt. Schließlich kann es sogar passieren, daß das Opfer an sich selber zweifelt. Dafür gibt es interessanterweise – gemäß Martha Stout - ein amerikanisches Idiom „to be gaslighted“ - nach einem US-Film von 1944 mit Ingrid Bergman, in welchem eine junge Ehefrau von ihrem neuvermählten Ehemann allmählich gegaslighted wurde: Sie zweifelte mehr und mehr an sich selber und ihren Wahrnehmungen, für die niemand Verständnis zeigte. Der ‘Mystery-Thriller’ hieß „Gaslight“, weil unter anderem das Licht (offenbar mit Gas als Energie gespeist) in dem gespenstigen Haus  bei Abwesenheit des Ehemanns sich zwischenzeitlich verdunkelte und wieder erhellte. (S.94 ff.)

 

Durch ihr Buch wird einem klar, daß es ganz unterschiedliche Sorten von Soziopathen gibt – wobei sie sich selbstverständlich immer auch auf relevante wissenschaftliche Literatur bezieht. Ihre Darstellungsweise ist sehr lebendig und sie schildert – sozusagen auf literarische Weise – einige dieser Fälle im Laufe ihres instruktiven Buches. Jedoch denke ich, daß jene 'literarischen' Beschreibungen durchaus auf authentischer Realität beruhen. Ihr Fälle sind nun keine sadistischen Serien- bzw. Sexualmörder (solche offensichtlichen Monster sind lt. Martha Stout interessanterweise prozentual selten unter den gewissenlosen Soziopathen / Psychopathen) sondern Leute, die in der Maske des Biedermanns bzw. der normalen Biederfrau agieren – und deshalb oft lange Zeit unerkannt bleiben, und meist auch niemals juristisch belangt werden (können) für die  Schandtaten, die sie real ihren Mitmenschen antun.

 

Eine der ersten natürlichen Fragen, die sich aufdrängen, ist natürlich die: Wie erkennt man einen Soziopathen? Wie kann man verhindern, daß man Opfer eines solchen gewissenlosen, unheilbringenden Menschen wird? Da gibt Martha Stout die ganz klare Antwort: njet! Einen Soziopathen kann man prinzipiell nicht als solchen erkennen! Je nach Intelligenz versteht er sich auf von Kindheit an trainierte virtuose Verstellungskünste. Er kann perfekt für seine Zwecke (anfangs) charmant und von sich einnehmend sein. Erst allmählich merken die Opfer, daß sie in eine Falle gegangen sind, daß sie ausgebeutet, niedergemacht, in jedem Fall aber (bewußt!) reingelegt worden sind. Oft aber machen sie sich eine ganze Zeit lang noch was vor. Deshalb gibt Martha Stout den sinnvollen Rat: Seh zu, daß du so schnell wie möglich Land gewinnst, schreibe deine Verluste ab und  sorge unbedingt als oberstes Axiom dafür, daß es Dir wieder gut geht – und sonst nix. Unter allen Umständen breche den Kontakt mit dem Soziopathen möglichst vollkommen ab. Versuche nicht, besser zu sein als er,  und deswegen eine Konfrontation herbeizuführen - oder gar ihn psychologisch zu therapieren bzw. zu analysieren!

 

Auch für das Erkennen eines Soziopathen (wenn er sich alsdann bei seinem Opfer niedergelassen hat und es ausweidet) gibt sie zwei interessante Hinweise. Ein wichtiger Trick des Soziopathen ist, das Mitleid (des Opfers oder anderer relevanter Personen) für den Täter zu erwecken. Zu diesem Zweck sind Soziopathen, im Rahmen ihrer Schauspielkünste, ohne weiteres zu absolut überzeugenden 'Krokodilstränen' fähig. (S.91) - Dann die Regel „of the three“: Wenn du dreimal belogen worden bist, reicht es; auch, wenn dreimal ein Versprechen nicht eingehalten wurde, dann reicht es genauso.

<Do not give your money, your work, your secrets, or your affection to a three-timer. Your valuable [kostbare] gifts [Geschenke] will be wasted [vergeudet, verwüsted].> (S.157)

Meiner Ansicht nach gilt diese Regel übrigens nicht nur für Soziopathen, die nach Martha Stout und ihrem wissenschaftlichen Wissen 4% der westlichen Gesamtbevölkerung ausmachen - übrigens mit ansteigender Tendenz (S.136). Für die 4% macht sie 54% genetische Ursachen gemäß wissenschaftlicher Zwillingsforschung aus, worüber sie ebenfalls sehr intensiv nachdenkt, zumal in China und Japan (angeblich) nicht mal 1% soziopathisch drauf sind. - Und jetzt komme ich nunmehr zu einer kritischen Ergänzung zu Martha Stout. Diese Regel „of the three“ gilt natürlich auch durchaus für Leute mit Gewissen, die aber in der Lage sind (meiner eigenen Erkenntnis nach: mit Hilfe von 'ideologischer Argumentation') ihr Gewissen partiell still zu legen. Auch ihnen gegenüber müßte man nach dreimal Lügen bzw. nicht eingehaltenen Versprechen sofort einen Cut machen, wenn man sich selbst bewahren will.

 

Für die Kategorie der 'partiellen Stillegung des Gewissens' mit Hilfe von 'ideologischer Argumentation' hat Martha Stout - in jenem Buch jedenfalls – meiner Ansicht nach - noch keinen Platz in ihrem System gefunden. Es gibt durchaus bei ihr sehr interessante Ansätze dazu, nämlich jemanden als ein nicht mehr zur (achtenswerten) Ingroup zugehöriges „it“ anzusehen und ihn (oder die ganze it-Gruppe) zu verschmähen, zu verfolgen und/oder ganz und gar auszurotten – aber daraus zieht sie noch nicht die vollen logischen Konsequenzen. Diese Verfolgungen müssen nicht (regelmäßig) von gewissenlosen Soziopathen angeheizt werden (mit Hilfe der von Milgram beschriebenen Methoden – ein Thema, das Martha Stout sehr ausführlich und wirklich großartig behandelt, vgl. S.59 ff.), sondern können auch von 'gewissenhaften' Menschen veranstaltet werden (was sie tatsächlich auch einmal kurz zugibt: <Conscience still exists, may even be very exacting [anspruchsvoll], but it applies only to my countrymen, my friends, and my children, not yours. You are excluded from my moral universe, ...> S. 58). Mit anderen Worten: nach meiner Ansicht können mit Hilfe von ideologischer partieller Stilllegung des Gewissens ebenfalls (mehr oder minder) gewissenlose Menschen entstehen, die im Extremfall kaum noch von authentisch gewissenlosen Menschen (zumindest auf der Handlungsebene) zu unterscheiden sind. Meiner Ansicht nach dient die von mir (auf meiner Philosophie-Website) klargestellte 'ideologische Argumentation' in der Regel der partiellen Stilllegung des Gewissens. (Zu dieser interessanten Erkenntnis verhalf mir übrigens jenes Buch von Martha Stout!). Dazu würde übrigens gehören, (behaupte ich jetzt mal als Hypothese), daß ein echter Soziopath nicht in der Lage ist, von sich aus ideologisch zu argumentieren, da ein Gewissen, das man nicht hat, auch gar nicht erst beruhigt oder stillgelegt zu werden braucht. (D.h. ein Soziopath argumentiert überhaupt erst gar nicht ideologisch rechtfertigend, daran könnte man ihn womöglich erkennen). Geschicktes Lügen zum Zwecke des (letztlich sinnlosen) Siegens ist das eigentliche Lebenselexier des Soziopathen. - Martha Stouts unklare Sichtweisen verdeutlichen mir jedoch, daß sie bezüglich Verbrecher mit partiellem Gewissen (speziell Hitler, siehe dazu hier) einige Nebel im Geiste hat – was natürlich ihr gutes Recht ist, da beispielsweise meine eigene Klassifizierung ideologischer Argumentationsmuster tatsächlich neu ist (und erst recht in der wissenschaftlichen Welt so gut wie unbekannt ist – und wahrscheinlich auch für  etliche Zeit bleiben wird). Martha Stout hat meiner Ansicht nach zu sehr die absolute Dichotomie von gewissenhaft vs. gewissenlos drauf – und beschränkt dadurch ihre großartige Analyse unnötigerweise. (Vgl. dazu ihre doch sehr dürftige Auseinandersetzung mit der <“shadow theory” of human nature> S.105 f.). Daß sie in Wahrheit auf dem Weg sein könnte zu einer umfassenden, ganzheitlichen Sichtweise der von ihr psychologisch und philosophisch angeschnittenen Problematik Gewissen vs. Gewissenlosigkeit, wird dadurch nach meiner Ansicht leider verhindert.

 

Neben der Klärung der negativen soziopathischen Gewissenlosigkeit, gibt es – im Gegensatz dazu - ihr positives Anliegen: die Klärung der Rolle des Gewissens als Ausdruck der Liebe: d.i. die gefühlsmäßige, verantwortungsvolle Verbindung von Menschen untereinander und die biophile Verbindung zur Welt. Martha Stout geht sogar zurück zu sehr erhellenden Disputationen der alten Kirchenlehrer diesbezüglich (S.27-29), was man übrigens durchaus mit Gewinn lesen kann! - Dann auch zu Freud (Martha Stout ist ja immerhin moderne Psychologin) – und sie fällt natürlich nicht auf dessen kuriose Sicht der Identifikation von Gewissen mit 'Über-Ich' rein. Für sie ist die Kategorie 'Gewissen' letztlich der gemeinsame Nenner aller Lehren, die den Menschen für voll nehmen, das heißt positiv sehen wollen und dem einzelnen menschlichen Leben Sinn verleihen wollen. Menschen mit einem hoch entwickelten Gewissen, „the generous and gentle souls“,  sind für sie die Hoffnung der Menschheit: „They are an elite of their own. … They are the most aware and focused members of our species. And they are, and always have been, our hope.“ - Das sind die Schlußworte ihres kleinen aber feinen philosophischen Werkes.