Miller - Sexus

Manfred Aulbach

09. Mai 03

 

Henry Miller: Sexus

(nach 114 von insgesamt 606 - mit Sicherheit - spannenden Seiten)

 

Unser Mieter, Herr S., ein Germanistikstudent, lieh mir kürzlich dieses Buch aus (Rowohlt 1970, gebundene Ausgabe) nachdem ich die diversen Henry-Miller-Bücher auf seinem Schreibtisch interessiert angesprochen hatte. Er empfahl mir dieses spezielle Buch von Henry Miller als besonders „saftig“. -  In der Tat, wer Henry Millers Buch „Wendekreis des Krebses“ schätzt (wie ich), der kommt auch hier wieder auf seine Kosten. Miller geht gleich von Anfang an in die Vollen – und offenbar ist das Buch wieder sehr stark autobiografisch – sofern man dem Autor Glauben schenken darf. Es handelt von der Zeit, als Miller noch überlegte, wie er aus seiner ‚Gefangenschaft’ als verheirateter und als verirrter kleiner Angestellter in New York, der eigentlich in der Bohème zu Hause ist, ausbrechen könne. Zu diesem Ausbruch in die Freiheit verhalf ihm die sagenhafte Mara (später, in der Pariser Zeit heißt sie wohl June), indem sich eine ungeheure erotische Beziehung zwischen den beiden Sex-Gottheiten ergab. Das wird sehr gekonnt und detailgetreu geschildert. Mara war bereit, an seine Berufung als Schriftsteller zu glauben und ihn dabei mit ihren spezifischen Kräften zu unterstützen. -  Überhaupt gibt es vielerlei Reflexion über das Schriftstellerdasein. So heißt es in einer, mich besonders faszinierenden Textstelle:

 

<Schreiben, so überlegte ich, muss ein vom Willen unabhängiger Vorgang sein. Das Wort muss wie eine tiefe Meeresströmung aus eigenem Impuls zur Oberfläche aufsteigen. Ein Kind hat nicht das Bedürfnis zu schreiben, es ist unschuldig. Ein Mann schreibt, um das Gift loszuwerden, das sich bei ihm auf Grund seiner verfehlten Lebensweise angestaut hat. Er versucht seine Unschuld wiederzugewinnen, aber er erreicht (mit seinem Schreiben) nur, daß er die Welt mit dem Virus seiner Desillusion infiziert.> (S.20).

Daraus folgt, nebenbei gesagt, eine en passant angedeutete Theorie des ‚positiven Schreibens’ bei Henry Miller.

 Die Frage, was Glück im Sinne von Freude ist, wird zweimal kurz, aber wesentlich, gestreift. So heißt es erstens als Einleitung zu dem obigen Zitat:

 <So im Dunkeln liegend, dachte ich über mein bisheriges Leben nach und verfolgte seinen Weg zurück bis zu den Ursprüngen. Ich dachte an die so glückliche Zeit meiner Kindheit, die langen Sommertage, wenn ich an der Hand meiner Mutter über die Felder ging zu meinen kleinen Freunden Joey und Tony. Als Kind kann man unmöglich das Geheimnis der Freude erfassen, die aus einem Gefühl der Überlegenheit entsteht. Dieses doch außerordentliche Gefühl, das einen befähigt, sich aktiv zu beteiligen und sich gleichzeitig dabei zu beobachten, schien mir die natürlichste Gabe der Welt. Es war mir nicht bewusst, daß ich alles mehr genoss als andere Jungen meines Alters. Der Unterschied zwischen mir und den anderen ging mir erst auf, als ich älter wurde.> (S.20)

 

Die Thematik des Unterschieds zwischen Henry Miller und seinen vielen diversen Freunden und Bekannten macht einen großen Teil dieses Buches aus. Man kennt dies ja auch schon von seinem großen Erstlingswerk, dem „Wendekreis des Krebses“.

 

Nun zu der zweiten Textstelle bzgl. Glück im Sinne von Freude:

 

<“Weine, und du weinst allein“ – was für eine Lüge! Weine, und du wirst eine Million Krokodile finden, die mit dir weinen. Die Welt weint immer und ewig. Die Welt ist in Tränen gebadet. Lachen, das ist etwas anderes. Lachen ist eine Sache des Augenblicks – es vergeht. Aber Freude – Freude ist eine Art ekstatisches Bluten, eine schändliche Überzufriedenheit, die aus jeder Pore deines Ichs dringt. Man kann die Leute nicht dadurch froh machen, daß man selber froh ist. Freude muss aus einem selbst kommen. Sie ist da oder nicht. Freude ist auf etwas zu Tiefes gegründet, um verstanden zu werden oder sie anderen mitzuteilen. Froh zu sein bedeutet, daß man ein Verrückter in einer Welt trauriger Gespenster ist.

Ich konnte mich nicht erinnern, Ulric jemals froh gesehen zu haben. Er war leicht zum Lachen aufgelegt, lachte sogar herzhaft, aber wenn es vorbei war, sank seine Stimmung immer etwas unter den Nullpunkt. Bei Stanley war das, was einem Heiterkeitsausbruch am nächsten kam, ein karbolsaures, bissiges Grinsen. In meiner ganzen Umgebung gab es keine Menschenseele, die innerlich wirklich froh war und sich nicht unterkriegen ließ.> (S.37)

 

Was ist mit Henry Miller los? Ist er ein sexbesessener Maniac, der für den Bildungsbürger nicht ernst zu nehmen ist mit seinen drastischen pornografischen Schilderungen? Ist seine Schriftstellerei nichts anderes, als der puritanisch-christlichen (zivilisatorischen) Doppelmoral die einfache Moral der freudianisch-gesunden Sexual-Bestie entgegenzusetzen? – Sicherlich lebt ein großer Teil der Philosophie dieses Buches von dieser Ideologie. Aber Henry Miller ist ein viel zu ernstzunehmender Geist, als daß man in dieser Sichtweise das Wesen des Künstlers und Philosophen Henry Miller erschöpfen könnte. Miller gestaltete offenbar seine Persönlichkeits-Entwicklung durch das Medium der modernen Sexualreligion hindurch zu seiner eigenen spezifischen Individuierung hin – begleitet durch seine selbstreflexive (ihn selber idealisierende) Literatur. Diese Individuierung wird übrigens einmal kurz, und leider nur hauchweise (damit es die Auflage nicht schädigen soll?), angedeutet:

 

<Und jetzt ist es Samstagnachmittag, die Sonne scheint hell und stark, und ich schlürfe blassen chinesischen Tee in Dr. Wuchi Hachi Taos Garten. Er hat mir gerade ein langes Gedicht über die Mutter gegeben, geschrieben auf  jenem roten Papier, das die Chinesen am Neujahrsfest abbrennen. Er sieht aus wie etwas Besseres – ist außerdem nicht sehr mitteilsam. Ihn hätte man nach dem ursprünglichen Tao fragen können, er wäre der Richtige gewesen, nur hatte ich damals den Tao-te-king noch gar nicht gelesen. Hätte ich es indes gelesen gehabt, so hätten sich auch weitere Fragen erübrigt – vermutlich hätte ich dann auch nicht in diesem Garten gesessen und auf eine Frau namens Mara gewartet. Wäre ich klug genug gewesen, diesen berühmten und elliptischen Text uralter Weisheit gelesen zu haben, wären mir sehr viele der Kümmernisse erspart geblieben, von denen ich jetzt berichte.> (S.77)
 <Ich höre drinnen das Telefon läuten. Ein schlitzäugiger Chinese, wahrscheinlich ein Professor der Philosophie, sagt mir in der Eßstäbchen-Sprache, daß eine Dame mich am Telefon zu sprechen wünsche.> (S.77) usw.

 

Und damit auch der Pornograf auf seine Kosten kommt, hier eine archetypische, quasi zeitlose Phantasie eines (angeblich ganz und gar nicht eifersüchtigen) Mannes: Nachdem Miller auf ernüchternde Art  einen Linksintellektuellen in seiner (selbstmörderischen?) Geistes-Falle insektenforschungsmäßig boshaft (von außen) darstellte, lässt er diesen mit ‚seiner’ Mara (wg. der enormen Summe von damaligen 300$, die dieser Linksintellektuelle ihr freundlicherweise vorschießen will) allein und hat nun folgende U-Bahn-Phantasien:

 

<Wahrscheinlich kniet er jetzt auf dem Boden und streichelt ihre Knie ... Er schiebt seine feuchte Schinkenpfote langsam über das kühle Fleisch hinauf ... in schleimiger Sprache sagt er ihr, wie einmalig sie ist. Es waren nie dreihundert Dollar da. Aber wenn er ihn hineinstecken, sie dahin bringen kann, ihre Beine ein wenig mehr zu spreizen, wird er versuchen, etwas für sie aufzutreiben. Während sie ihren Schlitz näher und näher heranschiebt, in der Hoffnung, daß er sich damit begnügen wird, sie auszulecken und sie nicht aufs Ganze gehen zu lassen, sagt sie sich, daß das kein Treuebruch ist, denn sie hatte alle miteinander mit deutlicher Offenheit gewarnt, daß sie, wenn sie es tun musste, es auch tun würde – und schließlich musste ja etwas geschehen. Gott helfe ihr, es ist sehr wirklich und sehr dringend: sie kann durchaus leicht damit davonkommen, denn niemand weiß, wie oft sie sich für ein wenig Kleingeld hat ficken lassen. Sie hat eine gute Entschuldigung, denn sie will nicht, daß ihr Vater wie ein Hund krepiert. Jetzt hat er seinen Kopf zwischen ihre Beine gebracht, seine Zunge ist heiß. Sie rutscht ein wenig tiefer herunter und legt ein Bein um seinen Nacken. Der Saft fließt, und ihr ist geiler zumute als je zuvor. Wird er sie die ganze Nacht zappeln lassen? Sie nimmt seinen Kopf zwischen ihre Hände und streicht mit den Fingern durch sein fettiges Haar. Sie presst ihre Möse an seinen Mund. Sie fühlt, wie es ihr kommt, windet und schlängelt sich, keucht, zieht an seinem Haar. Wo bist du? schreit sie in Gedanken. Gib mir diesen dicken Pint!> usw. (S.99)

– Die Phantasie des U-Bahn-Fahrers Henry Miller geht immer weiter. Schließlich:

<Unser Held öffnet die Augen und wird wieder er selbst – das heißt. der hier als ich bekannte Mensch, der nicht glauben will, was ihm sein Verstand sagt. Sie führen wahrscheinlich ein langes Gespräch, sage ich mir und ziehe damit einen Vorhang über die angenehme Unterschiebung. Sie würde nicht daran denken, sich von solch einem fettigen, verschwitzten Inkubus wie ihm anrühren zu lassen.> (S.100)